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Saisonrückblick 2019

Ein kurzes Zeitfenster
Ein Rückblick auf die Strahlnersaison 2019
Bruno Müller

«Schnee! Schnee! Schnee! Nur immer meeh, meeh, meeh, meeh! Und nyt ass Schnee!»! Dieses Zitat aus der Hass-Litanei, die der Teufel in Heinrich Danioths «Urner Krippenspiel» für die Menschen erbittet, kommt mir spontan in den Sinn, wenn ich an den vergangenen Winter denke. Immer wieder sorgten markante Nordwest-Staulagen für intensive, lang andauernde Schneefälle am nördlichen Alpenhauptkamm. Selbst Ende März, als viele Strahlnerinnen und Strahlner bereits schon den Frühling herbeisehnten, fielen im Urnerland nochmals grosse, schwere Schneeflocken vom Himmel. Innerhalb von 24 Stunden wuchs die Neuschneedecke bis zu eineinhalb Meter an und sorgte für Verkehrschaos und sehr grosse Lawinengefahr. Da erinnerte sich wohl mancher Urner an das eingangs erwähnte Zitat aus dem „Urner Krippenspiel“. Die nachfolgenden, eher durchzogenen Wetterphasen im April und Mai begünstigten die Schneeschmelze keineswegs. So war es nicht verwunderlich, dass sich der Start in die neue Strahlnersaison markant verzögerte. In der grossen Junihitze, die in der Schweiz das Thermometer gegen die 40°-Marke klettern liess, unternahm ich einen ersten Erkundungsgang ins Voralptal. Bereits auf dem Hüttenweg musste ich mehrere grosse Altschneefelder und Lawinenkegel überqueren. Die letzte halbe Stunde Fussmarsch bis zur Voralphütte verlief auf einer durchgehenden Schneedecke.

Am gegenüber liegenden Brunnenstöckli, meinem bevorzugten Strahlnergebiet, war kein Stein, keine Felsrippe, nicht der kleinste Grasfleck erkennbar. Sonnseitig gegen den Flüestafel hoch sah es etwas besser aus, aber bereits nach 200 Höhenmetern Aufstieg, musste ich immer öfters in das nasse Weiss ausweichen. So legte ich mich auf einer trockenen, ebenen Grasfläche gemütlich hin und gönnte mir einen wohlverdienten Mittagsschlaf. Die ursprünglich geplante Suche nach Kristallen machte bei diesen Verhältnissen absolut keinen Sinn. Auf dem Heimweg querte ich just unterhalb der Clubhütte die Voralpreuss. An genau dieser Stelle musste ich während meiner Zeit als Hüttenwart stets gegen Ende Juni einen kleinen Brückensteg über den schäumenden Gebirgsbach verlegen. Nun erlaubte ein rund zwanzig Meter hoher Lawinenkegel eine problemlose Bachquerung. Von den Fundamenten für die Brücke war weit und breit nichts zu sehen. Angesichts solcher riesigen Mengen fragt man sich unwillkürlich, ob ein paar kurze Sommermonate wohl reichen, um den Schnee zum Verschwinden zu bringen. Tatsächlich waren drei Wochen später nur noch kümmerliche Reste dieses Schneewalls zu sehen.

Im Urserental sah die Situation bezüglich Altschneedecke noch bitterer aus. Die geplante Passöffnung an der Furka verzögerte sich deutlich gegenüber den anderen Jahren. Somit war nun eindeutig Geduld gefragt. Gegen Ende Juli kam langsam Bewegung in die Geschichte und zahlreiche Strahlnerteams standen ungeduldig in den Startlöchern für die neue Saison bereit. Zwar waren viele Mulden noch stark mit dem hartnäckigen Weiss gefüllt, dafür waren die Verhältnisse weiter oben an den Gebirgsstöcken optimal. Der starke Wind während des Winters hatte die Wände und Gräte stark ausgeblasen und den Schnee in tiefere Lagen verfrachtet. So waren, auch dank stabiler Wetterlagen, erste erfolgreiche Strahlgänge im Hochgebirge machbar.

In der Göscheneralp bezogen Franz von Arx und Elio Müller ihren Adlerhorst am Planggenstock. Eine im Herbst 2018 neu geöffnete Kluft mit speziell auskristallisierten Quarzen hatte für einen Motivationsschub gesorgt. Einen Dämpfer musste das Team allerdings hinnehmen, als Franz wegen einer akuten Lungenentzündung notfallmässig von der REGA ausgeflogen werden musste. Glücklicherweise ist der unverwüstliche Strahlner aber wieder rasch genesen und konnte kurz darauf zu seiner zweiten Heimat hochfliegen. Auch Karl Tresch bezog seine luftige Plattform am Feldschijen und arbeitete an seiner Rauchquarzkluft weiter. In der Furkaregion belebte sich die Szene ebenfalls. Am Gletschhorn Südgrat richteten die Brüder Philipp und Thomas Steinbrugger, unterstützt durch Walter Gisler und Sepp Baumann, ihren ausgesetzten Arbeitsplatz ein. Die scheinbar grosse Kluft verlangt aber massiven Arbeitseinsatz bei nicht ganz einfachen Bedingungen in der Steilwand.

Mitte August herrschten dann endlich die optimalen Verhältnisse, die man sich als Strahlner wünscht. Der meiste Altschnee war verschwunden, die Gewitterneigung blieb gering und die Temperaturen in der Höhe zeigten sich äusserst angenehm. So war auch unser Team regelmässig unterwegs auf der Suche nach neuen Fundstellen. Einen unvergesslichen Tag, wenn auch nicht bezüglich Finderglück, durfte ich zusammen mit meinem Bruder erleben. Schon lange hegten wir den Wunsch, mitten durch die steile, stark gegliederte Ostflanke des Galenstocks zu streifen und nach verborgenen Klüften zu suchen. In dieser Wand musste es doch einfach Kristalle haben! Bis jetzt scheiterte dieses Unterfangen immer an den prekären Verhältnissen im Bereich des Bergschrundes. Zu stark zerrissen präsentierte sich jeweils diese Randspalte. Ein vernünftiger und einigermassen sicherer Einstieg in die Felsen blieb uns bisher verborgen. Mitte August endlich klappte es dank einer massiven Schneebrücke, über die wir mit Herzklopfen an die Basis der Ostflanke gelangten.

Durch stark erodierte und wild zerklüftete Granitschrofen erreichten wir etwas stabileres Gelände. Seilfrei, aber stets in Sichtweite des anderen, suchten wir einen gangbaren Weg durch die gut dreihundert Meter messende Steilflanke, die mit einer markanten Schneewechte ihren Abschluss findet. Obwohl wir intensiv suchten und so manchen Satz vom Schutt befreiten, wollte sich kein Erfolg einstellen. Nach mehreren Stunden hartnäckiger Arbeit gelangten wir schliesslich unter die imposante Wechte, die wir dank einer ausgeprägten Schneerippe direkt erklimmen konnten. Voller Freude über diese gelungene Tour schüttelten wir uns die Hände und genossen die fantastische Sicht zu den Berner- und Walliser Viertausendern. Beim Abstieg mit leerem Rucksack fanden wir schliesslich ein hübsches Gwindel, das wohl erst vor kurzem aus dem Eis herausgeschmolzen wurde. Es lag direkt auf der Normalroute zum Galenstock mitten in der Aufstiegsspur. Wie einfach es doch eigentlich sein könnte!

Der September zeigte sich dann von seiner besten Seite und bescherte uns Strahlner noch ein paar wunderschöne Herbsttage der Marke „unten grau – oben blau“. Leider beendete eine ausgeprägte Kaltfront, die einen halben Meter Neuschnee im Bereich der Dreitausender ablud, diese glorreiche Zeit. Nordseitig war die Saison vorbei, an sonnigen Lagen durften wir aber noch den einen oder andern Strahlgang geniessen. Das Zeitfenster für unsere schöne und intensive Tätigkeit war im vergangen Sommer wieder sehr eng gesteckt. Die späte Schneeschmelze und der eher frühe Wintereinbruch liessen eine eh schon kurze Saison noch mehr zusammen schrumpfen. Hoffen wir, dass uns im neuen Jahr mehr sonnige und schneefreie Tage vergönnt sind. Ich wünsche allen Strahlnerinnen und Strahlner eine erfolgreiche und unfallfreie Saison mit vielen eindrücklichen Erlebnissen und unvergesslichen Funden.