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Gabchopf

Gabchopf über dem Urnerboden
«Diä Gäch» 6a+(?), 5 SL
«Hanäschrei» 6a+, 6 SL
Der Urnerboden ist mein angestammter Bürgerort. Unser Vater verbrachte seine karge, aber glückliche Jugend in diesem lieblichen Hochtal, bevor im strengen Winter 1941 ein verheerendes Lawinenunglück ihn und seine sechs Geschwister zu Vollwaisen machte. Selber überlebte der damals 19-jährige Bursche nur knapp dieses Unglück, verbrachte aber in den Schneemassen furchtbar lange Stunden. Dank einem zersplitterten Holzbalken bildete sich im gewaltigen Lawinenkegel ein kleiner Hohlraum, der unserem Vater doch etwas Atemluft verschaffte und ihm schliesslich das Leben rettete. Immer wieder erzählte er uns, wie er die nahen Kirchturmglocken und die aufgeregten Gespräche seiner Retter deutlich vernehmen konnte, seine Hilferufe aber blieben ausserhalb der Schneedecke ungehört.

Diese traurige Episode ist Teil unseres Gesprächs während der rasanten Fahrt über den Klausenpass. Wir sind heute zu dritt unterwegs und freuen uns auf diesen Klettertag. Neben meinem Bruder Kurt konnte sich auch Beat einen Tag frei machen. Er kennt unser anvisiertes Kletterziel, wir zwei Brüder sind das erste Mal in unserer alten Heimat mit dem Seil unterwegs. Beat schlägt gleich ein sportliches Tempo an, dem wir zwei älteren Herren nur mühsam folgen können. Dabei hatte Beat frühmorgens doch noch was von fehlender Kondition geschwafelt… Die zwei leicht gekleideten Trailrunner, die uns auf den ersten Metern des Aufstiegs rasant überholen, erblicken wir auf der Alp Zingel jedenfalls wieder wenige Dutzend Meter vor uns. Kurt und ich sind entsprechend schweissgebadet. Erstaunlicherweise geht es uns in der steilen «Grasplangge» unter dem Gabchopf wieder deutlich besser und am Einstieg oben beruhigt sich der Puls rasch auf ein erträgliches Niveau. Spontan inspizieren wir die verschiedenen Einstiege und entscheiden uns nach kurzer Beratung für «Diä Gäch», die in imposanter Manier zum Gipfelkopf hochführt.

Meine beiden Seilgefährten überlassen mir grosszügig beide Enden der neuen Zwillingsseile, was für mich also den Vorstieg bedeutet. In eine unbekannte Route einzusteigen, beschert immer wieder gespannte Vorfreude und eine Prise Nervenkitzel. Die Route ist nach einer Sanierung aber zeitgemäss abgesichert und die mit 6a+ taxierte Schwierigkeitsbewertung sollte eigentlich machbar sein. Auf den ersten Klettermetern blendet mich die ums Eck blinzelnde Sonne und erschwert das Finden der gut getarnten Bohrhaken. Dies bessert sich erst, als ich nach dem steilen und anspruchsvollen Mittelteil auf eine Kante gelange und über diese zum Stand hochturnen darf. Für eine 6a+ war das schon ziemlich fordernd, aber dennoch gut machbar. Schwerer sollte es ja nicht mehr werden - dachte ich…

Auch die nachfolgenden Seilpartner loben die Schönheit der Kletterei und teilen meine Meinung bezüglich der Anforderungen. Der Weiterweg über eine fein strukturierte Platte sieht nun sehr verlockend aus. Einfaches «Durchlaufen» ist aber beileibe nicht angesagt und der mageren Bewertung von 5c+ dürfte man sicher etwas Zuschlag gönnen. Der Stand ist bequem, was man besonders in einer Dreierseilschaft schätzt. Vom nächsten Sicherungspunkt (Nr. 3) lässt sich das leider nicht mehr sagen. Dazwischen liegt eindrückliche, lohnende, aber teils auch knifflige Leisten- und Kantenkletterei, die mit einem luftigen Hangelquergang nach links beim erwähnten Hängestand endet. Ob das grobe Teil, an dem man sich rund 5 Meter rüber hangelt, noch lange in seinem alten Fundament kleben bleibt, ist schwierig zu beurteilen. Falls es wirklich mal der Schwerkraft folgt, hoffe ich ganz fest, dass sich nicht eine Seilschaft just in diesem Bereich befindet. Mein Bauchgefühl bei dieser Querung stimmte und auch meine Nachfolger hängten sich sorglos an die scharfe Oberkante des «Vier-Kubikmeter-Blocks». Für eine offizielle 6a mussten wir alle drei ziemlich zupacken. Auch hier dürfte man nach heutigem Standard sicher einen Grad draufpacken.

Vom unbequemen Hängestand weg, besonders wenn man von zwei kräftigen Typen flankiert wird, ist mein Fortkommen gelinde gesagt etwas mühsam. Beim dritten der eng steckenden Bohrhaken hilft mir schliesslich ein schmerzhafter Fingerklemmer im schmalen Riss über die Schlüsselstelle der Route. Weiter oben bin ich froh um die mitgeführten Cams. So lässt sich der weite, hakenlose Abstand bis zur imposanten Verschneidung etwas entschärfen. Durch den gewaltigen Felswinkel hoch läuft es gut, der abschliessende Quergang nach rechts sorgt dann für viel Luft unter den Sohlen. Ein kleiner Tipp: Mit den Händen stets im gleichen Querschlitz bleiben, bis man über die rettende Kante hinaus ist. Auch diese Länge ist mit 6a+ sicher markant unterbewertet! Das gilt vor allem für die ersten Startmeter.

In der Schlusslänge leitet mich der erste Bohrhaken auf eine splitterige Platte hinaus. Die zweite Sicherung steckt nun links in der Seitenwand und ist leicht zu übersehen. Nach dem Klinken geht’s bei der erstbesten Gelegenheit wieder auf die rundliche Kante, wo man den alten Ringborhaken in schöner Kletterei bis zum Routenende folgt. Die Bewertung mit 5c+ scheint hier wieder zu passen. Den Abseilstand der Route «Hanäschrei» finden wir nicht auf Anhieb, da uns das fehlerhafte «Topo» zu weit nach links treibt. Effektiv liegt die gelb eloxierte Standplatte bloss etwa 10 Meter westlich (links) vom Ausstieg unserer Route. Für etwas Herzklopfen sorgt dann Beat, der versehentlich zu weit abseilt und mit den letzten Zentimetern des Seils den nächsten Abseilstand erreicht. Als sich beim sehr weiten «Abzieher» noch eine Schlinge um einen Felszacken windet, befürchten wir schon ein Desaster. Glücklicherweise löst sich dieses Problem und in zwei weiteren Abseilstrecken erreichen wir unser Materialdepot am Einstieg.

Wir geniessen einen verdienten Imbiss und studieren unsere mitgeführten Routenbeschriebe. Eine zweite Route ist angesichts der Uhrzeit sicher machbar. Die Wahl fällt auf «Hanäschrei», die uns beim Abseilen einen lohnenden Eindruck vermittelt hat. Die bewährte Hierarchie der Seilschaft belassen wir, was mich schon bald in die ersten, leider etwas durchzogenen Meter der Route bringt. Auch hier sind nicht alle Bohrhaken sofort erkennbar. Weiter oben bessert sich sowohl die Felsqualität wie auch die Visibilität der Hakenlaschen. In der markanten Verschneidung lege ich gerne noch einen Camalot hinzu und benutze mit Freude die schwarzen Silex-Einschlüsse als willkommene Haltepunkte. Die Bewertung von 6a ist stimmig, geschenkt wird aber auch hier nichts.

Kräftig beginnt der zweite Abschnitt mit Hangelei an einem griffigen Querschlitz. Eng steckende Haken deuten wenig später auf eine erste Crux hin, die aber dank unerwarteter Tropflochleiste gut lösbar ist. Links an einem Überhang vorbei, erreiche ich wieder geneigteres Gelände und kann entspannt zum bequemen Stand hochsteigen. Die Taxation mit 5c+ passt für die Region. Steiler und athletischer geht’s in der dritten Länge zu. Die extrem griffigen Risse und Schuppen wecken Freude und fordern den Bizeps. Im anschliessenden Hangelquergang versenke ich den 1-er Cam, dies auch als Pendel-Prophylaxe für meine zwei Nachsteiger. Direkt an der der Kante erwartet mich nun ein weiterer Luxusstand mit grosszügiger Fussablage und optimal platzierter Chromstahlplatte. Die Bewertung 6a (kräftig) ist akzeptierbar.

Hier kommt von rechts her die «Tschienggä linggs» und verläuft in der Fortsetzung – entgegen dem «Topo» – ein paar Meter gemeinsam mit «Hanäschrei». Diese steilen und scheinbar glatten Meter in vertikaler Linienführung sind das Filetstück unsere Route. Einmal leicht linkshaltend trickst man eine vermeintlich schwere Stelle elegant aus und kann den nächsten Bolt wieder bequem klinken. Die Riss-Verschneidung bis zum Wandbuch markiert den zweiten Teil dieser genussvollen Länge. Mit 6a+ ist auch dieser Abschnitt sicher nicht zu hoch bewertet. Der Stand beim Wandbuch selber ist etwas unbequem. Hätte ich gewusst, dass die nächste Länge bloss 10 Meter misst, wäre ich wohl weitergestiegen. Diese 10 Meter sind ein luftiger Hangelquergang nach rechts, wobei eine durchschnittliche Flügelspannweite sehr hilfreich ist. Direkt an der Kante glänzt die nächste Standplatte, an der auch «Tschienggä linggs» Halt macht. Je nach Spannweite ist der ausgegebene Grad 6a passend.

Eher links hoch folgt nun eine wunderschöne Felsformation mit herrlichen Strukturen. Die Geologie wechselt aber rasch und nach einem vermeintlich brüchigen Aufschwung flacht das Gelände ab. Nach rechts in die Verschneidung und durch diese hoch ist es bloss noch eine Formsache, aber mit 5b vermutlich ein bisschen zu hart bewertet. Nun steht uns zum zweiten Mal die Abseilfahrt bevor. Diesmal benutzen wir alle Stände der Abseilpiste und schonen damit Seil und Nerven.
Obwohl beide hier beschriebenen Routen die gleiche Bewertung aufweisen, ist «Diä Gäch» wesentlich «gächer» zu klettern. Wie ich nun nachträglich entdeckte, ist im aktuellen SAC-Tourenportal diese Route nun mit 6c deutlich höher bewertet. Dieser Grad wird sowohl für die 3. wie auch die 4. Länge benutzt (6b, 6a+, 6c, 6c, 6a). Bei der Linienführung von «Hanäschrei» und «Tschienggä linggs» gibt es im Tourenportal-Topo allerdings noch kleine Diskrepanzen. Die wenigen gemeinsamen Meter nach dem Stand Nr. 3 von «Hanäschrei» und der gemeinsame Stand vor den jeweiligen Schlusslängen sind dort mit ordentlichen Abständen gezeichnet. Aber man findet sich mit diesem Topo sicher sehr gut zurecht.
Auf dem Bild sind die Routenverläufe von "Diä Gäch" (rot) und "Hanäschrei" (grün) eingezeichnet. Dazwischen verläuft die Route «Tschienggä linggs» (nicht markiert).

Nach etwas Genuss von Schnupftabak und Handkost schnüren wir unsere Bergschuhe, surfen durch das feine Geröll zur Alp Zingel runter und träumen auf dem Bergweg bereits vom Weissbier im Talboden. Besten Dank an Beat und Kurt für diesen intensiven und lustigen Klettertag. Zu dritt mit euch ist es einfach immer lässig! Vielen Dank auch dem fleissigen Sanierungsteam Hans Rauner und Sämi Leuzinger für die Pflege der Routen am Gabchopf.