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Glück oder Intuition

Ist es Glück oder Intuition?
Ein paar Gedanken über das untrügliche Bauchgefühl beim Strahlnen
Bruno Müller

Ohne konkreten Plan waren wir heute früh von unserem Biwak aufgebrochen. Die fast tägliche Suche nach Kristallen, das unermüdliche Runterschaben von verdächtigen Felssätzen und das stetige Umherstreifen in den zweifelsfrei fündigen Regionen blieben in den letzten Tagen und Wochen meist ergebnislos. Langsam schienen uns die erfolgreichen Ideen auszugehen. Die unbändige Motivation, die uns immer wieder aus den Federn und in die stinkenden Bergschuhe trieb, bekam langsam erste Risse. „Nehmen wir es doch heute gemütlich“, sagte ich zu meinem Neffen. „Eine genussvolle Bergtour zum Galenstock wäre doch was?“ Emanuel zeigte sich sofort mit diesem Vorschlag einverstanden. Bei diesem Wetter in der grandiosen Bergwelt unterwegs zu sein, den eigen Herzschlag intensiv zu spüren und Schritt für Schritt dem Gipfel näher zu kommen, war wirklich ein verlockendes Angebot. Der erste Wegabschnitt über stabile Granitblöcke, weckte unsere müden Geister, schärfte unseren Gleichgewichtssinn und brachte uns in wenigen Minuten an den Rand des beinhart gefrorenen Gletschers. Schon bald knirschten unsere Steigeisen auf der milchig-grauen Unterlage - wir hinterliessen nur ganz diskrete Spuren im Eis. Locker und völlig entspannt stiegen wir über den stark ausgeaperten Gletscher, unsere Blicke wanderten dabei immer wieder hoch zu den wilden, extrem zerissenen Granittürmen des Gletschhorns oder zur immer noch imposanten Wechte des Galenstocks. Ohne Worte fanden wir den Weg durch die zahlreichen Sturzblöcke und steuerten beide unbewusst den Fuss einer Felswand an. „Ab hier beginnt leider wieder die schlechte, kluftarme Zone“, bemerkte ich zu meinem Strahlnerfreund. „Da können wir uns wieder mehr auf unsere Füsse konzentrieren“, erwiderte er lakonisch. Wenige Meter später wurde unser zügiges Vorwärtskommen jäh gestoppt. Hart am Schrund, zwischen der warmglänzenden, goldigen Felswand und dem grauen Gletschereis, glitzerte etwas verdächtig aus dem engen Spalt.

Rasch bückte sich Emanuel und hielt mir eine haselnussbraune Quarzspitze unter die Nase. „So viel zur beginnenden, kluftarmen Zone“, meinte mein verschmitzt lächelnder Neffe. Wir entledigten uns der Rucksäcke und inspizierten die Sache im Detail. Da war doch tatsächlich ein offenes Klüftchen zum Vorschein gekommen. Voller Hoffnung pickelten wir etwas störendes Eis weg und räumten ein paar lose Steine aus dem Weg. Schon bald erkannten wir auch die Architektur des Hohlraums und durften weitere, verheissungsvolle Muster bergen. „Die Besteigung des Galenstock lassen wir für heute wohl sausen“, meinte mein junger Kollege und richtete bereits ein provisorisches Lager für unsere ersten Funde ein. Tatsächlich beschäftigte uns die Stelle bis in die Abendstunden und bescherte uns auch ein paar hübsche Funde. Zurück im Biwak, ein feines Nachtessen und ein, zwei Becher Rotwein später, sinnierte ich still über diesen Fund. Unzählige Fragen schwirrten mir durch den Kopf: War es bloss Glück oder ein Stück weit auch Intuition, die uns diesen Weg beschreiten liess? Spüren auch andere Strahlner dieses untrügliche „Bauchgefühl“, das uns oft wie magisch zu einem bestimmten Punkt führt? Findet man schöne Steine bevorzugt, wenn man sie gar nicht mehr erwartet?

Besonders das Thema Intuition und Bauchgefühl beschäftigt mich schon länger. Ich wollte etwas mehr darüber erfahren und begann mich auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinander zu setzen. Kann dieses Gefühl, dieses Gespür rational erfasst werden? Was für Prozesse spielen dabei im Gehirn und in unserem Unterbewusstsein eine wichtige Rolle? Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser des Mineralienfreundes. Ich werde sie mit den folgenden Zeilen nicht auf einen Esoterik-Trip entführen, sondern versuche ein paar neurobiologische Grundlagen verständlich aufs Papier zu bringen: Spricht man von Intuition, liegen Bewusstseinsinhalte nicht in einer klaren, detaillierten Form, sondern als diffuse Ahnung oder als vages Wissen vor, z.B. hinsichtlich der Richtung eines Weges oder der Antwort auf eine Frage. Bei vielen komplexen Entscheidungen haben wir das Gefühl, wir sollten uns in einer bestimmten Weise entscheiden, wir können dafür aber keine detaillierten Gründe dafür angeben. Dies wird oft als „Bauchgefühl“ bezeichnet, aber man sollte unter „Bauchgefühl“ eher starke Affekte und Motive verstehen, die uns massiv zu irgendetwas drängen. Solche Zustände treten meist in Stresssituationen auf. Das ist bei Intuition anders – sie drängen nicht, sondern legen uns nahe, führen uns zu etwas hin. Dieses Hinführen geschieht automatisch, mühelos und ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Das Ergebnis einer Intuition dagegen ist bewusst, das Resultat klar erkennbar. Urteile und Bewertungen, die schnell, unwillkürlich und mit hoher Überzeugungskraft ins Bewusstsein treten, nennt man daher intuitiv, der Prozess aber, wie die Intuition zustande kommt, bleibt dem Bewusstsein verborgen. Das Ergebnis oder Resultat hingegen weist eine hohe, wahrgenommene Validität auf (Man ist sich „sehr sicher“, dass die eigene Intuition korrekt ist).
Intuition basiert auf Wiedererkennen von Situationen und ist vermutlich evolutionär tief verankert (Wiedererkennen von Futterstellen, Wiedererkennen von Freund/Feind). Was man leicht wiedererkennt, wird als vertraut, angenehm, ungefährlich und emotional positiv erlebt. Eine sich darbietende Möglichkeit wird mit dem Wissen im Langzeitgedächtnis abgeglichen, und falls die identische oder eine sehr ähnliche Option aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann, wird sie wiedererkannt. Dieses „Wiedererkannte“ hat oft eine positive Valenz (einen positiven Wert), die unsere Entscheidung massiv beeinflusst. Man wählt, was man kennt! Auf unser Metier bezogen: Man besucht ein Strahlnergebiet, in dem man schon fündig wurde! Man beachtet aufmerksam Kluftanzeichen, die man von erfolgreich bearbeiteten, tragenden Klüften bereits kennt!

Intuition als Wiedererkennen funktioniert aber nur, wenn die Person hinreichend Erfahrung und umfangreiches Wissen angehäuft hat. Je mehr Klüfte man erfolgreich bearbeitet hat, desto mehr vergleich- und wiedererkennbare „Bilder“ schlummern im Langzeitgedächtnis. Dies gilt nicht nur für die begrenzte Sichtweise auf eine einzelne Kluft. Ebenso kann auch eine gute Zone, ein fündiges Egg, ja sogar eine kluftreiche Fundregion als ein solches „Bild“ betrachtet werden. Je mehr wir in solchen „hochkarätigen“ Gebieten unterwegs sind, je mehr aussagekräftige „Bilder“ wir davon abspeichern können, desto höher ist die Chance, dass Intuition zustande kommt, dass angetroffene Situationen deckungsgleich mit unseren gespeicherten Informationen sind, d.h. wir erkennen schnell und mühelos diese guten Zonen. Dies mag vielleicht auch eine Erklärung sein, warum Strahlner, die schon viele Jahre im gleichen Gebiet tätig sind, immer wieder erfolgreich neue Klüfte finden. Wenn wir also scheinbar planlos und ohne bestimmtes Ziel durch ein Strahlnergebiet streifen, kann es durchaus sein, dass unsere Schritte ein Stück weit intuitiv gelenkt werden. Gesteuert von gespeicherten „Landschaftsbilder“ in unserem Langzeitgedächtnis werden wir so vielleicht unbewusst zu einer frischen Kluft geführt. Spätestens dann müssen wir aber wieder auf das Glück vertrauen, wissen wir doch alle nur zu gut, dass eine Kluft alleine noch kein Garant für schöne Steine ist. Diese können bereits ausgeschüttet sein, von der Erosion zerstört oder mit furchtbar glanzlosem Chlorit überzogen sein. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für die nächste Strahlnersaison eine gesunde, intakte Intuition und parallel dazu viel Glück – ohne dieses geht es scheinbar doch nicht!