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Saisonrückblick 2013

Der „Kirmischtäi“
Ein paar Gedanken zur vergangenen Strahlersaison
Bruno Müller

Ein „Kirmischtäi“ ist gemäss der neuesten Ausgabe des Urner Mundartwörterbuchs ein Rastplatz im Gelände. Das Wort „kirmä“ ist abgeleitet vom mittelhochdeutschen Begriff „gehirmen“ und bedeutet nichts anders als „ausruhen“ oder „rasten“. Solche grossen Steine (Schtäi), bei denen man regelmässig einen Moment verweilt und eine Rast einlegt, sind auch unter uns Strahlern bekannt. Vielfach dienen diese schön gelegenen Steine auch als Sitzgelegenheit bei einem Verpflegungsstopp, einer sogenannten „Zninipäusä“, wenn wir bei den Urner Mundartausdrücken bleiben wollen.

Auf halbem Weg zu unserem Strahlerbiwak hat sich im Laufe der Jahrzehnte ein solch ideal gelegener Stein zu unserem persönlichen „Kirmischtäi“ entwickelt. Er dient uns dabei nicht als Unterlage für den genussvollen Verzehr von Brot, Speck und Käse. Nein, vielmehr bietet er uns eine perfekt geformte Ablagefläche für die prall gefüllten Rücksäcke, wenn wir nach einer erfolgreichen Strahlerwoche gesund und zufrieden heimwärts ziehen. Es verwundert daher nicht, wenn wir beim Aufstieg schon davon träumen, an diesem Stein ein paar Tage später die schmerzenden Schultern zu entlasten und ihm für ein paar Minuten den mit Rauchquarz gefüllten Rucksack anzuvertrauen.

Bei unserem ersten Strahlerausflug im vergangene Jahr lag der „Kirmischtai“ bis zur Hälfte noch unter einer zähen Schneedecke. Ein langer, harter und besonders gegen den Frühling hin auch schneereicher Winter hatte für überdurchschnittliche Schneemengen am zentralen Alpenkamm gesorgt. Hinzu kam ein extrem nasser und niederschlagsreicher Frühling, der im Mai und Juni die zu dieser Zeit rasch fortschreitende Schneeschmelze stark bremste oder in höheren Lagen sogar zu einer Zunahme der Schneemenge führte. So erstaunt es nicht, dass der Start in die Strahlersaison 2013 spät erfolgte und von der eher harzigen Sorte war. Geduld war nun gefragt, mitunter musste man sogar einen Gebietswechsel in tiefer gelegene Strahlerzonen ins Auge fassen.

Wie bereits erwähnt, trafen wir während unserer ersten Strahlerwoche Ende Juli auf eine geschlossene Schneedecke. Diese hatte bereits einen hohen Verfirnungsgrad erreicht; die Nächte waren kalt und klar. So konnte man in den ersten Morgenstunde sehr kraftsparend auf der hart gefrorenen Schneedecke an den Fuss der Felswände marschieren und diese nach verdächtigen Kluftanzeichen absuchen. Leider lag die weisse Masse aber auch auf den Felssätzen und Bändern, was den Spassfaktor bei der Suche nach den funkelnden „Bergdiamanten“ doch stark reduzierte.

Keinen Abbruch tat der viele Schnee unseren abendlichen Genüssen im Biwak. Der Schlaf- und Kochplatz war dank seiner Südostexposition schon länger schneefrei, der eingelagerte Wein hatte die lang andauende Winterkälte schadlos überstanden, der Schnupftabak konnte ebenfalls trocken in den Sommer gerettet werden und die glimmende Glut an den krummen Brissago’s liess sich ebenfalls problemlos entfachen. Strahlerherz, was willst du mehr?

Dank der ausgeprägten, dicken Schneeschicht konnten mein Neffe Emanuel und ich eine verdächtige Stelle, die im letzten Herbst ohne Seil nicht erreicht werden konnte, nun problemlos inspizieren. Unter Einsatz von Fäustel und Spitzeisen konnten wir auch eine kleine Tasche öffnen und die darin gefangenen Rauchquarze endlich befreien. Zusammen mit weiteren, qualitativ eher minderen Stufen, die wir im letzten Herbst im Biwak deponiert hatten, war Ende Woche der Rucksack doch schön gefüllt und lastete schwer auf den Schultern. Wie schon so oft verschaffte uns die obligate Pause beim „Kirmischtäi“ die erhoffte Linderung und liess uns Kraft für den restlichen Abstieg schöpfen.

In der Folge entwickelte sich der Sommer doch noch zu dem was sein Name eigentlich verspricht. So zeigte sich besonders der August von seiner besten Seite und verwöhnte uns Strahler mit herrlich warmen Hochsommertagen. Allerdings lag zu dieser Zeit noch immer erstaunlich viel Schnee. So richtig bewusst wurde mir das beim Besuch einer Stelle, die ich im Vorjahr entdeckt hatte. Die vielversprechende Kluft lag damals mitten in einer glatten Wand. Da oberhalb ein begehbares Felsband vorhanden war, konnte ich mich von dort ca. 10 Meter zur besagten Kluft abseilen und dort arbeiten. Nun war nicht einmal der Bohrhaken – die letztjährige Abseilverankerung - aus dem Schnee herausgeschmolzen.

Was solls? Die drei Wochen Ferien im August waren fest gebucht und versprachen trotz der aussergewöhnlichen Schneesituation genügend Spass. So zogen wir jeweils am Montagmorgen schwer beladen mit Proviant in unser Reich und kamen dabei stets am „Kirmischtäi“ vorbei. Und immer wieder hegte wohl jeder von uns den stillen Wunsch, sich ein paar Tage später an diesen Stein anlehnen zu dürfen und für ein paar Minuten Erholung zu finden. Viel zu schnell vergingen die drei Wochen am Berg. Mit viel Glück fanden wir in dieser Zeit auch zwei schöne Klüfte, die uns mit hellem Quarz belohnten. Gutgelaunt und mit der nötigen Geduld und Sorgfalt bargen wir den Inhalt dieser Quarzkammern und füllten damit unsere Rucksäcke. So kam jeweils Ende Woche der „Kirmischtäi“ zu seinem Einsatz und wuchs uns mehr und mehr ans Herz.

Im September hatte ich nochmals zwei Ferienwochen zur Verfügung. Diesmal sollte auch mein Kollege Sepp mit von der Partie sein. Er konnte leider im August keine Freitage einziehen und musste sich so lange gedulden. Leider kam aber schon bald der erste Schnee und verdonnerte uns eine Woche lang zur Untätigkeit. In dieser Zeit blieb auch der „Kirmischtäi“ kalt und unbenutzt...

Als sich dann erneut eine Hochdrucklage abzeichnete, stiegen Sepp und ich wieder hoch zum Biwak. Nun lag bereits wieder eine fast durchgehende Schneedecke auf den kluftreichen Felsköpfen. Zum Glück wussten wir genau, wo unsere Klüfte lagen und konnten sie so ziemlich rasch aus dem Schnee buddeln. Die Arbeit war aber alles andere als ein Honiglecken: Es war nass, kalt und unangenehm. Trotzdem versuchten wir unser Glück und konnten trotz der widerlichen Umstände noch ein paar Spitzen und Stufen bergen. Auf jeden Fall reichte es Ende Woche für eine Ladung, die wir gerne – sie ahnen es bereits – am „Kirmischtäi“ für einen kurzen Augenblick deponierten. Nach ein paar genüsslichen Zügen an der krummen Brissago und einer wohlverdienten Prise Schnupftabak, die den Weg in unsere Nasenhöhlen fand, zogen wir weiter glücklich talwärts.

Nun liegt der „Kirmischtäi“ in seinem kalten und eisigen Schneebett. Schon bald aber wird er wieder von der Sonne bestrahlt werden und sich langsam aus dem Schnee schälen. Dann wird er wieder auf uns warten und wir werden ihm hoffentlich erneut unsere kostbare Fracht für einen ruhigen Moment der Besinnung anvertrauen können.
Ich wünsche auch Ihnen einen solchen „Kirmischtäi“: Einen Ort, an dem sie Kraft schöpfen, einen Platz, der ihnen für einen Moment die Last von den Schultern nimmt, einen Punkt, an dem sie glücklich und zufrieden verweilen können, um sich danach den kommenden Herausforderungen stellen zu können. Viel Glück bei der Suche.